Chronologie zum Thema: Abmahnwelle bei Streaming-Nutzern auf Redtube;
Sachverhalt
Im Hebst 2013 wurde in den deutschen Medien eine Meldung veröffentlicht in der es hieß:
Die Regensburger Kanzlei Urmann und Kollegen (U+C) nimmt deutsche Nutzer des Porno-Streaming-Portals auf Redtube ins Visier. Die Kanzlei verschickte
Anfang Dez. 2013 mehrere hundert Abmahnungen an Internetsurfer, die angeblich diverse raubkopierte Pornos auf dem US-Portal angesehen haben.
In dem massenhaft verschickten Abmahnschreiben setzen die Anwälte von U+C einen Streitwert von über 1000 Euro pro angesehenen Porno-Film an – Titel
wie "Glamour Show Girls" oder "Amandas Secret" werden genannt. Der Vorwurf: Die Betroffenen hätten durch das Streaming von urheberrechtlich
geschütztem Material eine Urheberrechtsverletzung nach §19 UrhG begangen.
Das Mahnschreiben liest sich, grob vereinfacht, so:
Lieber Herr Soundso, Sie haben sich im Onlineportal Redtube den Pornofilm „Amandas Geheimnisse“ angeguckt und damit das Urheberrecht meines Mandanten
verletzt. Um juristische Konsequenzen zu vermeiden, überweisen Sie bitte 250 Euro auf folgendes Bankkonto. Mit freundlichen Grüßen, Urmann, Rechtsanwalt.
Sie fordern auf dieser Basis neben einer Entschädigung für die Nutzung und Anwaltsgebühren von knapp 150 Euro auch noch die Erstattung von
Ermittlungskosten in Höhe von 65 Euro – insgesamt 250 Euro sollen die Adressaten direkt an den Schweizer Rechteverwerter "The Archive" überweisen.
Die Post-Adressen der Redtube-Nutzer hat die Kanzlei U+C über eine Standard-Anfrage beim Landgericht Köln ermittelt. Das Landgericht fordert Internet-Provider
regelmäßig dazu auf, auf Basis von im Netz ermittelten IP-Adressen von Raubkopierern die Kontaktdaten ihrer Kunden an abmahnende Anwaltskanzleien
weiterzugeben. Dazu muss die Agentur die IP-Adressen und die Uhrzeiten angeben, an denen die Filme illegal genutzt wurden. Der als Basis für Auskunftsersuchen
dienende §101 im Urheberrechtsgesetz. RA Urmann vertrat die Auffassung, dass bei Streaming nach und nach der komplete Film als temporäre Datei
auf der Festplatte abgelegt wird.
Abgemahnt wurden vor allem Nutzer der Deutschen Telekom, ihre IP-Adressen hatte der Berliner Anwalt Daniel Sebastian beim, für den Bonner Unternehmenssitz
der Telekom, zuständigen Landgericht Köln eingereicht, um die Namen und Postanschriften der Nutzer zu erhalten.
(Die Regensburger Kanzlei Urmann und Kollegen (U+C) nahm dabei die Abmahnungen vor. Wie Anwalt Sebastian und U+C untereinander verbunden waren, blieb lange Zeit offen.)
"Durch das unbefugte öffentliche Zugänglichmachen des geschützten Werkes über eine sogenannte Tauschbörse liegt eine Rechtsverletzung des §19 UrhG vor",
begründen die Kölner Richter ihren Beschluss, mit dem sie die Telekom zur Preisgabe der Namen und Anschriften ihrer Nutzer zwangen. Der Berliner Rechtsanwalt
Sebastian führt in seinem Antrag an das Gericht als Beweis an, dass die Firma itGuards mit der Software "Gladii1.1.3" die IP-Adressen ermittelt habe.
Die Akteure
Anhand der Aktenzeichen der Rechtsanwaltskanzlei U+C war ersichtlich, dass zehntausende Internetanschluss-Inhaber betroffen sein mußten. Auch der Internetprovider von Kabel
Deutschland wurde zur Auskunft über seine Kunden verpflichtet.
Mit über 10.000 IP-Adressen angeblichen Redtube-Nutzern hat der Berliner Rechtsanwalt Sebastian und die Regensburger Kanzlei Urmann und Kollegen (U+C) eine der größten
Abmahnwellen bislang gestartet.
89 Anträge hatten die Anwälte der Rechteinhaber beim Landgericht Köln eingereicht, 62 davon gaben verschiedene Kammern des Gerichts statt, bei 27 scheinen die Richter
genauer hingesehen zu haben und lehnten die Anträge ab. Anwalt Thomas Urmann äußerte sich im Dezember 2013 gegenüber der "Welt am Sonntag": "Eine klassische Arbeitsteilung:
RA Sebastian hat die Anträge gestellt, wir organisieren die einzelnen Abmahnungen."
Zum damaligen Zeitpunkt war immer noch nicht geklärt, wie im Fall der Abmahnungen von Nutzern des Porno-Streaming-Portals Redtube, die IP-Adressen der Anwender
herausgefunden wurden. Der Berliner RA Daniel Sebastian hatte die IP-Adressen mehrerer zehntausend Nutzer beim Landgericht Köln eingereicht, um einen Auskunftsanspruch
gegenüber der Deutschen Telekom über Namen und Postanschriften der Nutzer zu erlangen. Dabei jedoch hatte Sebastian bewusst nicht genau erläutert, wie die mit den
Ermittlungen beauftragte Firma die Verbindung zwischen Redtube und seinen Nutzern ausspähen konnten. "Das Gutachten erklärt nicht im letzten technischen Detail, wie die
IP-Adressen der Nutzer ermittelt wurden. Das ist Geschäftsgeheimnis der Ermittlungsfirma", hatte Anwalt Thomas Urmann der "Welt" gesagt.
Das Landgericht Köln hatte demnach keinen genauen Einblick in die Ermittlungen.
Ein Sprecher des Gerichts sagte, in dem Verfahren hätten sich die Richter auf die Aussage einer dritten Kanzlei verlassen, die das verwendete Verfahren geprüft habe: Laut Gutachten
beruhten die bei den Tests durchgeführten Aktionen "technisch auf üblichen Internet-Technologien, welche beim Einsatz in dem verwendeten Test-Szenario keine Bedenken hinsichtlich
etwaiger Gesetzesverstöße erkennen ließen".
Die Schweizer Fa.The Archiv AG;
In Auftrag gegeben hatte die Abmahnungen von Tausenden deutschen Nutzern eine Firma aus der Schweiz. Sie heißt The Archive AG.
Den Internetnutzern war vorgeworfen worden, Videostreams urheberrechtlich geschützter Sexfilme auf der Porno-Plattform abgerufen haben.
Wer vom Gericht einen Beschluss bekommen will, um zu IP-Adressen auch die Namen der Nutzer zu erfahren, muss glaubhaft machen, dass er diese Namen erfahren
darf – dass er also geschädigt wurde und nun die Schädiger finden will. Im Fall Redtube geschah das durch Verträge, in denen dargelegt wurde, dass die Firma The Archive AG die Rechte
an den Filmen besaß.
Am 22. Dezember 2013 hatte ein gewisser Ralf Reichert im Namen der Firma The Archive AG per E-Mail eine Erklärung verschickt und von einer
"Vielzahl von falschen Spekulationen" berichtet. Doch schon wenige Tage später hatten die Verantwortlichen das Unternehmen offensichtlich verschwinden lassen.
Verträge hatte die Fa. The Archive AG mit einer Firma Namens Hausner Productions geschlossen. Hausner hatte die Rechte an den Pornos von einer anderen Firma gekauft
und kurz darauf an The Archive AG verkauft.
Laut Vertrag gehört die Firma einem Oliver Hausner und residiert in der Danziger Straße 13 in Berlin. Die Danziger Straße 13 ist ein Wohnhaus in Berlin-Prenzlauer Berg. Eine
Firma dieses Namens gab es dort nicht, zumindest hat sie kein sichtbares Schild angebracht und ist auch der Hausverwaltung nicht bekannt.
Bei einer Anfrage wegen einer Gewerbeauskunft beim zuständigen Ordnungsamtes konnte kein Gewerbebetrieb ermittelt werden. Fünf Jahre reicht die Datenbank des Ordnungsamtes
Pankow von Berlin zurück. Eine Firma, die laut Vertrag mit der Unterschrift von Oliver Hausner im Juli 2013 existiert haben soll, müsste dort erfasst sein. Sie war es nicht.
Dafür listete die Berliner Gewerbedatenauskunft eine Oliver Hausner Unternehmensberatung – nur wenige Straßen entfernt von der ersten Adresse, in der Christburger Straße 49
in Prenzlauer Berg. Doch auch dort gibt es weder diesen Menschen noch diese Firma. Kein Klingelschild, kein Briefkasten, niemand kannte ihn oder das Unternehmen.
Übrig bleibt derzeit nur der anfangs genannte Ralf Reichert. Offiziell war er zu dieserZeit Mitglied im Verwaltungsrat von The Archive AG. Er ist Deutscher und hat neben der
Fa.The Archive AG einen Musikvertrieb in Offenbach. Erreichen konnte man ihn nicht, auf E-Mails antwortete er auch nicht, sein Handy war ausgeschaltet. „The Archive AG“ ist nicht
sein einziges Problem. Im Rahmen seines Musikvertriebes stritt er sich seiner Zeit mit einem ehemaligen Geschäftspartner vor Gericht.
Das Gutachten
Das Gutachten der Münchner Patentanwaltskanzlei Diehl & Partner wurde im Auftrag der Firma itGuards im März 2013 erstellt – es sollte gegenüber dem Kölner Landgericht belegen,
dass deren Software Gladii1.1.3 als Ermittlungswerkzeug gegen die Redtube-Streaming-Nutzer eingesetzt werden durfte.
Doch nicht alle Kölner Richter folgten der Argumentation des Gutachters – zwei Kammern meldeten Zweifel an, und gaben nach dem Erhalt des Gutachtens dem Auskunftsersuchen des
Berliner Anwalts Daniel Sebastian über die Namen und Adressen der Porno-Gucker im Sommer 2013 nicht statt.
Gutachter war Dr. Frank Schorr, seines Zeichens Patentanwalt und promovierter Physiker mit 18 Jahren Berufserfahrung und – laut Selbstbeschreibung im Gutachten – "mit den
Technologien der Informationsverarbeitung und Informationsübertragung über das Internet in einem Maß vertraut, die über das für die vorliegende Untersuchung notwendige Maß weit
hinausgeht."
F. Schorr protokollierte bereits im Dezember 2012, wie er an zwei Tagen drei Videodateien auf drei Pornoportalen ansurfte und sie mit dem auf den Webseiten integrierten Videoplayer
ansah. Anschließend loggte er sich in das "Web-Interface" der Gladii-Software ein, und fand dort seine Interaktionen mit den Porno-Webseiten samt seiner IP-Adresse und passender
Uhrzeit protokolliert.
Bemerkenswert ist dabei, dass die Firma itGuards, besagter offizieller Auftraggeber des Gutachtens, am 21. März im US-Bundesstaat Delaware registriert wurde – also erst einige
Monate nachdem F.Schorr die ersten Tests mit der Software der Firma durchgeführt haben will. Das Gutachten selbst ist dann auf den 22. März 2013 datiert.
Das Unternehmen, das für den Rechteinhaber „The Archive AG“ die IP-Adressen von Tausenden Nutzern ermittelt haben will, existiert offenbar nur auf dem Papier. Die
Fa. „ITGuards Inc.“ hatte lediglich einen Briefkasten im Silicon Valley - San Jose angemietet – und das auch nur bis Dezember 2013.
Ein Leser der Plattform „heise.de“ hat nach eigenen Angaben vor Ort nach dem Unternehmen gefragt. Die Empfangsdame habe berichtet, die Firma habe lediglich bis Ende des
Jahres (Dez.2013) für 75 Dollar monatlich ein Postfach angemietet gehabt. Büroräume habe es nie gegeben.
Das wichtigste Detail ließ das Gutachten aus;
p>Mit dem beschriebenen Test sah Dr. F. Schorr seine Gutachterpflicht getan und bestätigte, "die Ziele der Überprüfung seien vollumfänglich erreicht". Den Quellcode der Software
begutachtete er nicht, die genaue Funktion beschreibt er ebenfalls nicht. Damit lässt er das entscheidende Detail unbeschrieben: Wie genau konnte Gladii1.1.3 die IP-Verbindung
zwischen dem Rechner der Porno-Gucker und dem Streaming-Server von Redtube ausspionieren?
Spuren in den Browser-Caches betroffener Nutzer deuten darauf hin, dass die Nutzer über eigens eingerichtete Webseiten gezielt zu den entsprechenden Pornos umgeleitet wurden,
und dass erst durch die Umleitung eine Protokollierung ihrer IP-Adressen möglich war.
Genau an diesem Punkt wird Schorrs Gutachten unklar, mehr noch: Es hat zumindest in der vorliegenden Kopie eine eindeutige Lücke. Der Gutachter beschreibt nicht genau, von wo
aus er die von ihm genannten Dateien ansurft. Stattdessen schreibt er unter Punkt 6.4.2 lediglich, er habe die Videos durch "Anklicken eines auf der Seite dargestellten und das jeweilige
Video repräsentierenden 'Thumbnails'" – also eines Vorschaubildes – ausgewählt: "Daraufhin startete die Darstellung des Videos."
Abschnitt 5.3 scheint verschollen;
Doch wer selbst diesen Weg nachvollzieht und dabei den von Schorr unter Punkt 5.2 dargelegten Link zur Video-datei eingab, der mußte auf kein Thumbnail klicken, stattdessen lädt
sofort der Videoplayer der Seite. Schorr lässt den entscheidenden Schritt – wo genau klickte er auf Thumbnails, um das Video auszuwählen, welche Adresse hatte die Thumbnail-Seite,
woher kannte er die Adresse dieser Seite – in seiner Beschreibung weg.
Diese Lücke im Gutachten wird wenig später noch deutlicher: In seinem Punkt 7.4 beschreibt Schorr, was genau Gladii1.1.3 protokollierte.
Dabei nannte er auch den Punkt "Auswählen des der Mediendatei (siehe Abschnitt 5.3 oben) entsprechenden Videos". Doch diesen Abschnitt 5.3 gab es in seinem Gutachten zumindest
in der der "Welt" vor liegenden Kopie überhaupt nicht.
Den aus forensischer Sicht entscheidenden Punkt – wie genau ermittelt Gladii1.1.3 technisch die IP-Adressen der Nutzer – bleibt der Gutachter schuldig. Er beschränkt sich darauf,
die Funktion in drei Einzelfällen zu bestätigen, und bleibt selbst dabei augenscheinlich lückenhaft. Eine Anfrage der "Welt" bei der Kanzlei blieb unbeantwortet.
Die Wende - Abgemahnte wehrten sich - der Staatsanwalt ermittelte
Der Streit um die Abmahnungen von Nutzern des Internetportals Redtube nahm immer kuriosere Ausmaße an. Die Kölner Staatsanwaltschaft ermittelte– und die Betroffenen
konnten hoffen.
Das Landgericht Hamburg urteilte kurz vor Weihnachten (2013), dass die angeschriebenen Redtube-Nutzer jedenfalls nicht in diesem Fall gegen Rechte von The Archive AG
verstießen. Auch bestanden erhebliche Zweifel daran, dass die IP-Adressen der Telekomkunden auf juristisch zulässige Weise ermittelt worden waren.
Den an dem Fall rund um die Abmahnung von Nutzern des Porno-Portals Redtube beteiligten Anwaltskanzleien und Rechteinhabern droht ein juristisches Debakel: Das Landgericht
Köln hat nun zugegeben, dass seine Richter eventuell die eigenen Redtube-Beschlüsse wieder kassieren müssen.
"Einige Kammern haben bereits signalisiert, dass sie die inzwischen aufgetauchten Bedenken an der Ordnungsgemäßheit der Ermittlung der IP-Adressen für beachtlich halten", teilte
ein Sprecher des Gerichts mit. Die Richter würden "dazu neigen, ihre Beschlüsse aufzuheben und auszusprechen, dass die betroffenen Anschlussinhaber in ihren Rechten verletzt
wurden". Was so verklausuliert daherkommt, ist nichts weniger als ein Eingeständnis eines wohl kapitalen Irrtums: "Es war höchst ungewöhnlich, dass Richter per Presseerklärung
juristische Bewertungen abgeben, bevor sie eine entsprechende Entscheidung trafen", sagt der Düsseldorfer Anwalt und Blogger Udo Vetter.
Redtube ist keine Tauschbörse
Die Richter hatten Ende August 2013 mindestens 62 von 89 Anträgen des Berliner Anwalts Daniel Sebastian stattgegeben und damit die Herausgabe von Zehntausenden Namen
und Adressen durch die Telekom autorisiert. Doch dabei scheinen sie dem geschickt formulierten Antrag von Sebastian aufgesessen zu sein.
Sie begründeten ihre Beschlüsse damit, die Nutzer hätten in einer "Tauschbörse" gegen das Urheberrecht verstoßen. Das Portal Redtube ist jedoch gar keine Tauschbörse, die Nutzer
laden die Filme nicht auf ihre Festplatten herunter.
Das sehen nun augenscheinlich auch die aktuell damit befassten Kammern des Landgerichts so – und zweifeln selbst daran, dass die Nutzung von Streaming-Portalen gegen das
Urheberrechtsgesetz verstießen. "Es deutet vieles darauf hin, dass die Richter Streaming – egal ob von einer rechtmäßigen oder von einer rechtswidrigen Plattform – immer als
rechtmäßig ansehen", kommentierte der Kölner Medienrechtler Christian Solmecke.
Das Landeskriminalamt stieg in den Fall ein
Mittlerweile hatte der Fall das Interesse der Kölner Staatsanwaltschaft geweckt: Die Staatsanwälte ermitteln von Amts wegen – also ohne dass sie durch eine Strafanzeige dazu
bewegt wurden – gegen Unbekannt wegen falscher eidesstattlicher Versicherungen vor dem Landgericht.
Aus Justizkreisen verlautet folgender Verdacht: Die Firma, die von den Rechteinhabern der Pornos mit der Ermittlung der IP-Adressen der Porno-Gucker beauftragt wurde, könnte Nutzer
gezielt auf die Seiten der Pornos umgelenkt haben, nur um sie dann abzumahnen.
"Nun müssen alle Verbindungen zwischen den Beteiligten offengelegt werden, denn hier ist möglicherweise ein gewerbsmäßiger und bandenmäßiger Betrug aufzudecken, wobei das
Landgericht Köln missbraucht wurde", glaubte der Berliner Rechtsanwalt Johannes von Rüden.
Der Kölner Staatsanwaltschaft drohte RA Urmann öffentlich rechtliche Schritte an, wenn sie weiter behaupte, er sei womöglich an eventuellen Falschaussagen vor dem Kölner Landgericht
beteiligt. Noch nachdem sich die Staatsanwaltschaft für diesen Fall interessierte, vertrat RA Urmann immer noch die Auffassung, dass bei Streaming nach und nach der komplete Film als
temporäre Datei auf der Festplatte abgelegt wird.
Abgemahnte Nutzer arbeiteten selbst in Foren daran, Indizien zum Vorgehen der Abmahner zu sammeln. Wer in seinem Internet-Browser noch Protokolldateien aus der Zeit von Ende Juli bis
Anfang August 2013 hatte, an denen er der Abmahnung zufolge die urheberrechtlich geschützten Redtube-Seiten besucht hatte, der fand dort Hinweise auf eine Seite, die trafficholder.com
heißt. Von dort war der Browser erst in schneller Folge auf die Seite movfile.net, dann auf die Seite retdube.net und von dort auf das eigentliche Streaming-Portal Redtube weitergeleitet
worden – dabei waren die Links von movfile.net und Redtube augenscheinlich mit einer eindeutigen Film-Identifikationsnummer markiert.
Die Seite trafficholder.com ist ein Angebot an die Betreiber von Porno-Seiten – sie leitet gezielt Internet-Nutzer auf der Suche nach Sexseiten auf ihre Angebote weiter, kann dabei zum
Beispiel deutsche Nutzer auf deutschsprachige Seiten umlenken. Laut eigenen Angaben reicht die Seite knapp 20 Millionen Nutzer pro Tag weiter, die vorher per Google nach Sex-Schlagwörtern
gesucht haben und dann auf den Trafficholder-Landingpages ankommen. Theoretisch wäre es möglich, dass die Ermittlungsfirma Trafficholder dafür bezahlt, gezielt deutsche Porno-Sucher
auf Sex-Seiten wie movfile.net und redtube.net zu leiten. Ein Leser der Zeitschrift "ct" kontrollierte die Zugriffszahlen der vier abgemahnten Pornos für den fraglichen Zeitraum und fand
heraus, dass sich ab der Registrierung der Seiten die Zugriffszahlen der fraglichen Filme verdoppelt hatten.
Sollte dies zutreffen, hätten die Ermittler gezielt deutsche Porno-Gucker über ihre eigens registrierten Seiten zu den Pornos geleitet, um ihre IP-Adressen zu ermitteln.
Damit jedoch hätten die Ermittler die später abgemahnten Porno-Zugriffe selbst generiert – ein rechtlich zumindest fragwürdiges Vorgehen.
Die Luxemburger Redtube-Inhaberfirma Mindgeek scheint einen Exodus ihrer Nutzer zu fürchten und widerspricht dem Verdacht, dass sie selbst die Adressen weitergegeben habe. In einem
Interview mit der Branchenseite Xbiz sagte Mindgeek-Manager Alex Taylor, die Sicherheit seiner Nutzer habe oberste Priorität.
Der Haken am rechtlichen Vorgehen von Mindgeek: Eine Firma wie The Archive AG lässt sich – das notwendige Stammkapital vorausgesetzt – relativ einfach gründen und wieder schließen.
Die Hintermänner der aktuellen Abmahnwelle könnten also einfach eine neue Firma gründen, für die die einstweilige Verfügung aus Hamburg nicht gilt. Diese könnte erneut Porno-Rechte
einkaufen und Nutzer abmahnen. Das Ziel von Abmahnwellen ist regelmäßig eben nicht der klärende Rechtsstreit – stattdessen setzen viele Abmahner einfach darauf, dass etwa 20 bis
30 Prozent der Angeschriebenen bereits nach Erhalt des ersten Abmahnbriefs sofort zahlen. Wer gezahlt hat, bekommt sein Geld auch dann nicht einfach zurück, wenn später entschieden
wird, dass Streaming-Gucken nicht gegen das Urheberrecht verstößt.
Tatsächlich standen die Abmahnungen allerdings auf wackeligen Füßen, da das reine Streaming von Filmen zur damaligen Zeit noch in einer juristischen Grauzone steckt. „Bei der flüchtigen
Speicherung im Rechnercache entsteht gemäß § 53 Urheberrechtsgesetz lediglich eine Privatkopie. Die ist aber nur dann strafbar, wenn eine offensichtliche Rechtswidrigkeit vorliegt“,
erklärte der Rechtsanwalt Christian Solmecke, der mehrere 100 Abgemahnte vertrat, gegenüber FOCUS Online. „Außerdem verbleibt die Kopie beim Streaming nur maximal drei Sekunden
im Zwischenspeicher des Computers. Solche Kopien sind nach § 44a Urheberrechtsgesetz erlaubt.“
Ermittlungen der Staatsanwaltschaft
Die Schweizer Firma „Fa. The Archiv AG“, in deren Auftrag die Abmahnungen verschickt worden waren, besaß die Online-Verwertungsrechte für die betreffenden Sexfilme nicht.
Nutzer hatten nicht gegen Filmrechte verstoßen
Nach einer Entscheidung des Landgerichts Hamburg kurz vor Weihnachten 2013 hatten die angeschriebenen Redtube-Nutzer allerdings jedenfalls in diesem Fall nicht gegen Rechte von
The Archive AG verstoßen.
Die Vertragskopien, die der "Welt am Sonntag" vorlag, ließen nun Zweifel aufkommen, ob die The Archive AG die Online-Verwertungsrechte an den vier Pornofilmen, um die es geht,
überhaupt rechtmäßig erworben hatte. Den Vertragskopien zufolge hatte The Archive AG die Online-Verwertungsrechte von Pornos von der Berliner Firma Hausner Productions übernommen.
Hausner wiederum erwarb die kompletten, weltweiten Rechte an insgesamt zehn Pornos von der spanischen Firma Serrato Consultores S.L. aus Barcelona, deren deutsche
Geschäftsführerin Julia Schilling den Verkaufsvertrag unterzeichnete.
Filmrechte gehören einer US-Firma
Doch Serrato Consultores S.L. ist ebenfalls nicht selbst Urheberin der Filme. Die Porno-Streifen wurden ursprünglich unter komplett anderen englischen Titeln von der amerikanischen
Pornoproduktions-Firma Combat Zone USA gedreht, wie Einträge in der Branchendatenbank Adult Movie Database belegen – Serrato Consultatores hat sie augenscheinlich nur
umetikettiert. Combat Zone USA vermarktet das Filmmaterial selbst weiterhin online unter dem Originaltitel. Dass die US-Firma tatsächlich ihre kompletten Rechte an Serrato abgetreten
hatte, ist demnach unwahrscheinlich und wurde von The Archive AG bislang auch nicht nachgewiesen.
Sollte herauskommen, dass The Archive AG die Online-Rechte für die abgemahnten Filme gar nicht hat, würde der gesamte Fall zusammenbrechen.
Die Berliner Rechtsanwaltskanzlei Kanzlei Müller Müller Rößner (MMR) wirft U+C vor, Internet-User grundlos abgemahnt zu haben. „Wenn juristische Laien durch Behauptungen und
Androhungen eines mit der Autorität eines Organs der Rechtspflege ausgestatteten Rechtsanwaltes veranlasst werden sollen, von diesem geltend gemachte Ansprüche zu erfüllen, die nicht
bestehen, ist das nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung strafbar“, erklärte Rechtsanwalt Carl Christian Müller in der Stellungnahme. Sollte Müllers Kanzlei mit ihrer Anzeige Erfolg
haben, droht dem Abmahnanwalt eine Freiheitsstrafe „nicht unter einem Jahr“.
Abgemahnte ließen im Dezember 2013 in einer Sammelklage das Amtsgericht Hannover darüber entscheiden, ob die Abmahnungen im Namen der Fa. The Archiv AG, rechtmäßig seihen
und reichte eine negative Feststellungsklage ein. Daraufhin legte der Abmahnanwalt Thomas Urmann sein Mandat in diesem Fall nieder.
Das Gericht entschied im Januar 2014 eindeutig, dass die Forderungen von The Archive AG unberechtigt waren;
Mit ihrem Urteil entschieden die Hannoveraner Richter auch, dass das Ansehen von gestreamten Videoinhalten im Netz rechtmäßig ist, solange das Video-Material nicht offensichtlich
von einer rechtswidrig kopierten Vorlage stammt: "An einer solchen offensichtlichen Rechtsverletzung fehlt es", begründeten die Richter ihr Urteil.
Weitreichendes Urteil
Doch sie gehen sogar noch weiter. Die Kontrolle, ob ein gestreamter Inhalt illegal kopiert wurde oder nicht, kann dem Nutzer eines Streaming-Angebotes nicht zugemutet werden, so das
Amtsgericht. Der reine Konsum eines illegal veröffentlichen Films ist danach erlaubt.
Der Nutzer eines Videostreams hat in der Regel keine Möglichkeit der Kontrolle, ob der Film rechtmäßig öffentlich zugänglich gemacht wurde. Es hinge somit vom Zufall ab, ob der Nutzer eine
Urheberrechtsverletzung begeht oder nicht. Sollte diese Rechtsauffassung Schule machen, sind auch die Nutzer von anderen Videostreaming-Portalen zunächst vor kostenpflichtigen
Abmahnungen sicher.
Die Entscheidung
Die ohnehin düstere Lage für die Redtube-Anwälte verfinstert sich noch weiter: Der europäische Gerichtshof hat 2014 Streaming für legal erklärt. Damit verloren den Abmahnanwälte
jegliche Grundlagen. Illegale Inhalte sollten Sie aber dennoch auf jeden Fall vermeiden.
Endlich gab es eine Bestätigung vom europäischen Gerichtshof (EuGH): Streaming ist keine Urheberrechtsverletzung. Das heißt auch Inhalte, die wie beim Steaming im Browser-Cache
gespeichert werden, können bedenkenlos angesehen werden. Im Cache werden Dateien zwischengespeichert, die der Browser kurzfristig benötigt. Downloads und Angebote wie
"Popcorn Time" bleiben dagegen eindeutig illegal.
Wie aus Daten des Schweizer Handelsregisters hervorgeht, bekam die Firma The Archive AG am 27. Dezember 2013 einen neuen Chef und einen neuen Firmensitz. Der bisherige "Direktor
mit Einzelunterschrift" der AG, Philipp Wiik, ist von dieser Funktion zurückgetreten. Er hatte das Unternehmen 2011 gegründet, nun firmiert jemand namens Djengue Nounagnon Sedjro Crespin
als Direktor, laut Handelsregister beninischer Staatsangehöriger. Außerdem zog das Unternehmen demnach vom schweizerischen Bassersdorf nach Weisslingen. Es sieht ganz danach aus,
als sei ein Strohman eingesetzt worden, damit die Verantwortlichen einer eventuellen Strafverfolgung entgehen.